PUBERTÄT

WISSENSWERTES Pubertaet - Praxis Nina Kroll Zumikon

Pubertät in 360 Worten

Die Pubertät ist eine Entwicklungsnotwendigkeit

Sie zeigt sich nicht bei allen Jugendlichen gleich deutlich im Verhalten. Selbst relativ heftige Erscheinungsformen sind durchaus «normal» – auch wenn sie mitunter schwer auszuhalten sind (und die Nachbarn, Verwandte und Bekannte die Nase rümpfen und mit guten Tipps – oder Vorhaltungen – nicht sparen). Problematischer ist, wenn sich bei einem Jugendlichen kaum oder gar keine Anzeichen pubertärer Vorgänge zeigen. Hennig Köhle spricht in diesem Zusammenhang vom «Drama des folgsamen Kindes». Die innere Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, die sich Jugendliche während der Pubertät erwerben, sind später im Leben weitaus schwerer zu erringen.

Hauptaufgabe der Jugendlichen in der Pubertät ist es, sich frei zu strampeln und in dem Chaos, in das sie sich stürzen, einen Weg zu finden, mit dem sie sich identifizieren können.

Irgendwo zu Beginn der Reise haben sie sich etwas vorgenommen für dieses Leben. Es zumindest ahnungsweise wieder zu finden, ist die Herausforderung der Pubertät. Das Leben auszuschmecken in all seinen (menschlichen) Höhen und Tiefen, ist unerlässlich, um sich wirklich orientieren zu können, ohne darauf angewiesen zu sein, fremdes «Wissen», fremde Erfahrung ungeprüft zu übernehmen. Zeitweilig können die jungen Menschen (sich) dabei verloren gehen. Wichtig ist, dass sie den Glauben an sich nicht ganz verlieren.

Dabei können wir ihnen helfen: indem wir an sie glauben, unverbrüchlich, egal, was sie tun, egal, wie sie sich zeigen, egal, wohin sie sich verirren. Vertrauen beweist sich erst wirklich, wenn es (scheinbar) enttäuscht wird, wenn es auf die Probe gestellt wird.

Jugendliche während der Pubertät brauchen ein Gegenüber.

Sie durch die Wirren der Pubertät zu begleiten, ist nicht immer eine dankbare Aufgabe. Wir werden für die Jugendlichen zu Projektionsflächen für alles, von dem sie sich lossagen müssen, um einen eigenen Standpunkt finden zu können. Wir repräsentieren für sie alles, was «out» ist, überholt und von gestern. Alles, was sie zwingt, anders zu sein, als sie (meinen) sein (zu) wollen. Wir werden zu Gegenspielern. Wir müssen diese Rolle auch spielen: unsere Meinungen, Haltungen, Ansichten offen(siv) vertreten, klar Stellung beziehen und Grenzen setzen. Aber auch zuhören, ernsthaft zuhören und Interesse zeigen. Vertrauen, Interesse und Standhaftigkeit sind die Hauptkräfte, die Jugendlichen helfen, heil durch die Wirren der Pubertät zu finden.

Jörg Undeutsch, www.pubertätverstehen.ch

Zwölf Thesen zur Pubertät

Die Pubertät ist unvermeidbar

Sie ist ein notwendiger Entwicklungs-Schritt, ein Individualisierungsschritt wichtiger denn je in einer Zeit, in der Verwandtschafts- und Familienbeziehungen, Schicht- und Klassenzugehörigkeit, Traditionen und überlieferte Verhaltensweisen eine immer geringere Rolle spielen. In der es Aufgabe eines jedes einzelnen Menschen ist, mehr als je zuvor, seinen eigenen Weg zu finden, seine individuelle Aufgabe, seinen Platz in der Welt. Die Pubertät zeigt sich nicht bei allen Jugendlichen gleich deutlich im Verhalten. Auch relativ heftige Erscheinungsformen sind durchaus «normal» – wenn sie auch mitunter schwer auszuhalten sind (und Nachbarn und «Freunde» die Nase rümpfen und mit guten Tipps – oder Vorhaltungen – nicht sparen). Um Jugendliche, die kräftig und auffällig pubertieren, müssen wir uns in der Regel weit weniger Sorgen machen, als um solche, die es nicht tun.

Die innere Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, die sich Jugendliche während der Pubertät erwerben, sind später im Leben weitaus schwerer zu erringen.

Wenn ein Kind nicht pubertiert, bezahlt es oft mit seelischer Unfreiheit. Die Chance, die eigene Individualität zu entdecken, zu erproben und zu festigen, ist weitgehend ungenutzt geblieben. Hennig Köhler spricht in diesem Zusammenhang vom «Drama des folgsamen Kindes». Irgendwann stellt sich Lebensüberdruss ein, das Gefühl der Wertlosigkeit und des Versagens. Und zu einem Zeitpunkt, an dem der Mensch sich bereits in viele Verantwortlichkeiten versponnen hat, wird er in verzweifelten Ausbrüchen Pubertät nachholen – im besseren Falle. Im schlechteren bleibt der Mensch in einem Leben aus Anpassung und Lustlosigkeit gefangen, gibt sich auf und flüchtet in Abstumpfung und Betäubung. Wir haben es dann mit wenig kreativen, im Grund frustrierten und zynischen Erwachsenen zu tun, die nur schwer Verantwortung übernehmen können, weder für sich selbst noch für andere – Menschen, die ihre Gefühle verschlossen halten und kaum jemanden wirklich an sich herankommen lassen.

Pubertät hat – entgegen der Ansicht z.B. von Barbara Sichtermann – weniger mit Hormonen zu tun als wir gemeinhin denken.

Die Geschlechtsreife ist Teil eines komplexen Ganzen, das sich gleichzeitig auf der physischen, seelischen und geistigen Ebene abspielt. Natürlich hat Testosteron beispielsweise Einfluss auf das Verhalten eines Menschen und wer diesen Einfluss studiert, versteht das Verhalten vieler Männer besser als zuvor. Natürlich hat es einen Einfluss auf die Körperempfindung, auf das Selbst(wert)gefühl, wenn der Körper plötzlich völlig neue Formen annimmt, die ein Kind an der Schwelle zur Jugend noch nicht ausfüllen kann; wenn die Körperproportionen aus dem Gleichgewicht kippen, die Stimme bricht, Hoden wachsen und Brüste schwellen. Wenn das Vertrauteste, Verlässlichste nahezu von einem Tag auf den anderen fremd wird und unzugänglich. Natürlich spielt es eine Rolle, wenn im Seelenraum plötzlich Vorstellungen sexuellen Inhalts auftauchen,drängend und gar nicht immer schön. Oder man bemerkt, dass man begehrliche Blicke auf sich zieht und nicht weiss, ob man freudig erregt sein soll oder schreiend davonlaufen – und vor allem: was das alles mit einem selbst zu tun hat. Es ist befremdlich für Jugendliche, wenn es ihnen bewusst wird, dass Sexualität das Leben der Erwachsenen in einem Mass bestimmt, von dem sie als Kinder so gut wie gar nichts geahnt haben. Wenn sie spüren, dass auch sie selbst diesem Sog ausgesetzt sind, einem Sog, der Angst macht, fasziniert und – verunsichert.

Natürlich ist körperliche, triebhafte Sexualität eine Macht, die niemand ausklammern darf, der sich mit Pubertät auseinander setzt. Aber ist sie das Bestimmende, das Vorherrschende, Ursächliche? Tauchen nicht daneben, darunter und darüber noch ganz andere, ebenso oder gar noch stärker ungewohnte, beängstigende und/oder verlockende Seeleninhalte auf, alle fordernd, alle be-fremd-lich? Sexualität ist eine starke Macht. Aber sie ist nicht alles. Und dass sie überhaupt bewusst werden kann in diesem Alter und so (mit)bestimmend werden, hat mit einem umwälzenden Vorgang ganz anderer Dimension zu tun.

Pubertät ist die Geburt der (freien) Seele.

Bisher ist sie verhüllt herangereift, hat vermittelt gewirkt. Nun wird sie mit einem Mal frei, drängt ungestüm ans Licht. Peer Wüschner schreibt: Die Jugendlichen werden von innen her umgestülpt. Allan Guggenbühl bezeichnet das, was in den Jugendlichen aufbricht, als eine neue Dimension des Seins, eine kraftvolle, berauschende und beängstigende Wirklichkeit. Was in ihnen vorgeht, was mit ihnen geschieht, verstehen die Jugendlichen meist selbst nicht. Es verwirrt, beunruhigt – und fasziniert sie. Guggenbühl nennt es eine Hadesfahrt in die Tiefen des eigenen Unbewussten. Fantasien, Aggressionen und Leidenschaften branden auf, die alle nicht unbedingt gesellschaftskonform sind. Jugendliche lernen Gutes wie Böses kennen, in sich – und beides fasziniert sie gleichermassen. Denn die Moral, die für das eine und gegen das andere spricht, ist (noch) nicht ihre Moral. Ihre eigene Moral wollen sie erst noch finden.

Das Anstössige verspricht zumindest spannend zu sein – und Macht zu verleihen. Macht, die sie brauchen, ihren eigenen Weg zu suchen, zu finden und durchsetzen zu können. Jugendliche ringen mit sich selber, alles andere wird nebensächlich. Auch die Welt und die Menschen um sich herum betrachten Jugendliche durch diese ganz und gar subjektive Brille. Henning Köhler charakterisiert den Wahrnehmungsmodus Jugendlicher als «Weltwahrnehmung durch ausdrucksbezogene Selbsterfahrung».

Jugendliche fühlen sich nackt.

Mit der Geburt des Seelischen in ihnen wird ihnen bewusst, was sie vorher wenn überhaupt, dann nur träumend fühlten: Die Welt ist nicht nur gut und schön, sie ist voller Bosheit, Hässlichkeit und Lüge. Plötzlich erkennen sie: All das gibt es nicht nur in der Welt – es lebt auch in mir, neben hoch fliegenden Träumen, geheimen Sehnsüchten und bisher unbekannten Leidenschaften. Scham erfüllt die Seele, Enttäuschung und Einsamkeit. Und die Angst, gleichsam durchsichtig zu sein, die Angst, jeder könne sehen, was in ihnen vorgeht, wenn sie sich nicht gut genug verstellen und verstecken. Die Verlockung der Lüge tritt in ihr Leben. Sie ziehen die Vorhänge zu: «Wegen Umbau geschlossen». Nein: Wegen Aufruhr geschlossen, innerem, Angst machendem, Hässlichkeit preis gebendem Aufruhr, Aufruhr, der die bisher tragenden Stützen eingerissen hat und das Schiff von Hafen zu Hafen treibt, nur um immer wieder festzustellen: Das ist es (noch) nicht. Wo will ich hin? Wie will ich sein? Wie will ich wahrgenommen werden? Nach Jeanne Meijs durchläuft jeder Jugendliche die Pubertät in drei Phasen, die bei unterschiedlichen Jugendlichen unterschiedlich stark ausgeprägt sind:

Sie beginnt mit der Gedankenpubertät, etwa zwischen 13 und 15:

Die Kinder grübeln, reden, zweifeln, stellen alles in Frage. Unterschiedlichste Ideen faszinieren sie, manche probieren sie aus; all das aber spielt sich vor allem noch im Kopf ab, in Vorstellungen. In ihren Gedanken ist alles viel grösser und mächtiger, aussergewöhnlicher und Welt verändernder als in Wirklichkeit.

Dann brechen die Gefühle wie eine brandende Woge über sie her oder besser: aus ihnen hervor. Die Gefühlspubertät dominiert in der Regel die Jahre 15 bis 17.

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, schwärmerisch überfliessend oder ganz in sich versunken leben die Jugendlichen ihre inneren Stimmungen. Was sie in sich erleben, ist Realität für sie und sie fühlen sich ihr ausgeliefert. Sie erleben Freundschaft und Einsamkeit, hoch fliegende Träume, Illusion und bitterste Enttäuschung. All das ohne Filter, ganz und gar und hier und jetzt.

Nach einer Phase, in der Lethargie und Antriebslosigkeit vorherrschen kann, dominiert ab 17, 18 die Willenspubertät

Jetzt stürzen sich die Jugendlichen in Erfahrungen, je aufrüttelnder, abseitiger, eigen-artiger desto besser. Neues Terrain will erkundet werden, nicht ausgetretene Pfade. – Eine Frage beherrscht diese Zeit: Wie fühle ich mich darin an, vermag ich zu bestehen? Was kann ich, wo sind meine Grenzen?

Hauptaufgabe der Jugendlichen in der Pubertät ist es, sich frei zu strampeln und in dem Chaos, in das sie sich stürzen, einen Weg zu finden, mit dem sie sich identifizieren können. Irgendwo zu Beginn der Reise haben sie sich etwas vorgenommen für dieses Leben. Es zumindest ahnungsweise wieder zu finden, ist DIE Herausforderung der Pubertät. Das Leben auszuschmecken in all seinen (menschlichen) Höhen und Tiefen, ist unerlässlich, um sich wirklich orientieren zu können; ohne darauf angewiesen zu sein, fremdes «Wissen», fremde Erfahrung ungeprüft zu übernehmen. Zeitweilig können die jungen Menschen (sich) dabei verloren gehen. Wichtig ist, dass sie den Glauben an sich nicht verlieren. Dabei können wir ihnen helfen: indem WIR an sie glauben, unverbrüchlich, egal, was sie tun, egal, wie sie sich zeigen, egal, wohin sie sich verirren.

Vertrauen ist die Hauptkraft, aus der heraus wir Jugendliche in der Pubertät begleiten und unterstützen können: Vertrauen in den «Schutzengel» der Jugendlichen, Vertrauen darauf, dass es gut gehen wird, auch wenn wir die Kontrolle nicht mehr haben. Vertrauen in die Jugendlichen selber, in ihre gute, tragende Seite, das in ihnen verborgen lebende Verantwortungsbewusstsein, in ihre Kraft und ihren Mut, weiter kommen zu wollen. Vertrauen in das, was wir in ihnen haben wecken können in den Jahren vor der Pubertät. Vertrauen beweist sich erst wirklich, wenn es (scheinbar) enttäuscht wird, wenn es auf die Probe gestellt wird. Vertrauen aufzubauen, zu entwickeln und aufrecht zu erhalten auch durch Anfechtungen hindurch heisst aber nicht, dass wir alles laufen lassen sollen.

Jugendliche während der Pubertät brauchen ein Gegenüber.

Sie brauchen Menschen, an denen sie sich reiben können. Menschen, die standhaft bleiben. Jugendliche durch die Wirren der Pubertät zu begleiten, ist nicht immer eine dankbare Aufgabe. Wir werden für die Jugendlichen zu Projektionsflächen für alles, von dem sie sich lossagen müssen, um einen eigenen Standpunkt finden zu können. Wir repräsentieren für sie alles, was «out» ist, überholt und von gestern. Alles, was sie zwingt, anders zu sein, als sie (meinen) sein (zu) wollen. Wir werden zu Gegenspielern. Für Pubertierende sind Eltern, Lehrer, Paten nicht nur die konkreten Menschen, zu denen sie eine Beziehung haben. Sondern auch Stellvertreter der Gesellschaft, in die sie hineinwachsen – und in der sie aufgewachsen, von der sie bislang geprägt worden sind. Sie sind darüber hinaus nach Guggenbühl auch archetypische Figuren, mit denen sich junge Menschen auf dem Weg zu sich selbst auseinander setzen wollen. Um das zu können, müssen Jugendliche die Erwachsenen, mit denen sie es zu tun haben, ein Stück weit entpersönlichen.

Wenn wir Erwachsenen den inneren archetypischen Bildern der Jugendlichen nicht entsprechen, provozieren sie uns so lange, bis wir es tun. Jugendliche wollen den Widerstand, sie wollen sich abgrenzen, absetzen können, aufregen können über «die Erwachsenen» und das, was sie für die Jugendlichen darstellen. Sie wollen ihre eigenen Wege finden und die dürfen nicht vorgespurt, die müssen «ganz neu» sein, einmalig, anders als das, was bisher da war und immer noch da ist. Deshalb müssen wir die uns zugeschriebene Rolle auch einnehmen: unsere Meinungen, Haltungen, Ansichten offen(siv) vertreten, klar Stellung beziehen und Grenzen setzen. Aber auch zuhören, ernsthaft zuhören und Interesse zeigen.

Jugendliche haben ein Recht auf Rücksichtslosigkeit.

«Suche Individualität, wirf das, was fremd ist, über Bord, knüpfe eine Verbindung mit deinem inneren Ich an und kümmere dich um deinen eigenen roten Faden», fasst Jeanne Meijs die Hauptaufgabe der Jugendlichen zusammen. Pubertät ist Egozentrik pur. Das muss so sein. Sie suchen ihren eigenen Weg, wollen nichts Überkommenes ungeprüft bestehen lassen, wollen – und dürfen – sich grundsätzlich nicht «fügen». Dabei testen und sprengen sie immer wieder bewusst und unbewusst die Grenzen von Sitte, Anstand und Moral und übertreten auch einmal das eine oder andere Gesetz.

«Handlungen, bei denen nur die Grenzen der gesellschaftlichen Absprachen überschritten werden, sind noch keine Abartigkeiten», betont Jeanne Meijs. Dass sie uns damit mitunter (sehr) verletzen, merken Jugendliche oft gar nicht. Sie wollen es auch nicht. Sie wollen uns zu «archetypischen» Reaktionen zwingen, sie wollen uns zur Aufrichtigkeit zwingen, Masken vom Gesicht reissen in ihrer unerbittlichen Suche nach der Wahrheit «dahinter», sie wollen sich Frei-Räume erkämpfen. Sie müssen sich abnabeln, müssen alles bisher Prägende zurückweisen, sich (auch innerlich!) Unabhängigkeit erobern. Sie müssen die Fäden abschneiden, die sie noch mit uns verbinden, um später neue knüpfen zu können. In Krisensituationen müssen wir deshalb erst einmal uns selber klären: Was in uns reagiert aufgebracht, verletzt, ungeduldig oder ängstlich? Wo und warum verlieren wir den Mut, die Zuversicht und das Vertrauen? Wie sehr sie uns auch reizen, herausfordern, zurückstossen, verletzen und beleidigen – wir dürfen sie es nicht «spüren lassen». Sie haben genug mit sich selbst zu tun. Wenn wir sie mit unseren Gefühlen belasten, ihnen ein schlechtes Gewissen bereiten, lenkt es sie von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Sie unterlassen es aus Mitleid, weiter zu pubertieren, sie steigern ihre Provokationen, um uns ganz «abzustellen» oder sie nehmen es sich wirklich tief zu Herzen. In jeden Fall schadet es ihnen und kann das kleine Quäntchen «Zuviel» sein, dass sie straucheln lässt. Unsere Probleme – auch wenn sie durch das Verhalten unserer Kinder hervorgerufen werden – wurzeln in uns. Behalten und lösen wir sie auch dort, wo sie hingehören: in uns selbst.

Jugendliche suchen «starke» Erwachsene.

Auf nichts reagieren sie verächtlicher als auf sich anbiedernde Erwachsene. Nichts nervt sie mehr als Weinerlichkeit. Gerade in der Pubertät suchen sie Menschen, an denen sie sich orientieren können, keine Jammerlappen, für die sie sich schämen, die sie verachten müssen. Sie brauchen uns als Vor-Bilder, als authentische Beispiele – aber solche, die Halt geben, solche, die Stand halten. Sie wollen uns noch idealisieren – und verteufeln dürfen. Wir dürfen schwach sein, uns auch schwach zeigen mitunter– aber immer so, dass klar wird: Die Verantwortung dafür, die liegt bei uns. Wir suchen nicht Hilfe, wir betteln nicht um Mitleid, wir wollen nichts erreichen damit, niemanden erpressen, niemandem ein schlechtes Gewissen machen. Wir sind – jetzt gerade – so. Aber wir behalten das Heft in der eigenen Hand. Sie wollen uns spüren, in allem, was uns zu Menschen macht, in allem, wonach sie selbst in sich suchen. Henning Köhler schreibt: «Zeige mir, wo du, ohne äussere Veranlassung und konventionelle Nötigung, jenseits eingeübter Gewohnheiten, fernab von materiellem Erfolgsstreben oder karrieristischem Ehrgeiz, rein aus deinen individuellen Willensimpulsen heraus denkst, fühlst und handelst; zeige mir, wo du ungebrochen nur du selbst bist, denn dies bei Erwachsenen zu erleben, flösst mir Zuversicht ein.» Wir müssen ansprechbar für sie sein, spürbar, erlebbar. Aber wir dürfen uns nicht aufdrängen. Es gibt nur eine Antwort auf ihre Frage(n), «eine Art ermutigende Auskunftsverweigerung» (Köhler): «Du bist auf einem Weg, deinem Weg. Gehe ihn, wir stehen hinter dir.» Das ist die (grosse) Kunst, einen Kaktus gerade nicht zu umarmen.

Jugendliche wollen echte Verantwortung.

«Zu Beginn der Adoleszenz sind beim jungen Menschen fast alle Fähigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften entwickelt, die ihn als Erwachsenen auszeichnen», schreibt Allan Guggenbühl: «Ein 15-Jähriger macht sich Gedanken über den Sinn des Lebens, entwickelt Lebenspläne, hat erotische Phantasien und richtet sein Verhalten nach Zielen und Ideen.» Er möchte seine Kräfte und Phantasien, seine Unruhe und seine Bedürfnisse in die Gesellschaft einbringen. «Sie haben die Kindheit verlassen und wären bereit, sich den Verantwortungen, Pflichten und Herausforderungen des ausserfamiliären und ausserschulischen Lebens zu stellen.»

Sie wollen für voll genommen werden – wir halten sie zurück! Wie kleinen Kindern sagen wir ihnen: später, «wenn du gross bist». Dabei sind sie das längst! Sie wollen sich erproben, beweisen, wollen – endlich – wirksam werden. Wir sperren sie in ein Ghetto, zwingen sie in ein Niemandsland, in dem sie sich alles – nur nicht ernst genommen fühlen. Die Folgen liegen auf der Hand. Guggenbühl: «Die demonstrative Passivität, der coole Auftritt, das Schwatzhafte, das Chaos, die Introvertiertheit und die Disziplinlosigkeit, mit der Jugendliche auffallen, ist eine natürliche Reaktion auf die künstliche Infantilisierung, die sie erfahren.» Gebt ihnen Aufgaben, wirkliche Aufgaben, nicht blosse Übungen, nicht «pädagogisch aufbereitet» – ohne doppelten Boden, reale Herausforderungen, an denen sie sich beweisen, an denen sie wachsen (und sich auch mal die Finger verbrennen) können. Nehmt sie beim Wort, nehmt sie ernst – gebt ihnen die Verantwortung die zu tragen sie sich zutrauen. Und – bitte – erfindet Schule für Jugendliche noch einmal ganz neu. Am leichtesten fällt es uns (und den Jugendlichen, mit denen wir es zu tun haben), wenn wir unser eigenes Leben leben. Die Zeit der Erziehung ist vorbei. Was wir vor der Pubertät nicht erreicht haben, können wir nicht mehr erreichen. Das liegt nun ganz in den Händen der Jugendlichen. Wir können das als Verlust erleben – und werden es sicherlich auch -, wir können aber auch sehen, dass es nicht nur die Jugendlichen frei lässt, sondern auch uns befreit: Wir dürfen wieder eigene Wege gehen! Und das Verrückte ist: Je mehr wir es tun, je spürbarer wir unser Leben wieder als ein eigenständiges, unabhängiges betrachten und auch anpacken, desto befreiter atmet der Jugendliche durch, der eben noch meinte, unter unserer Sorge ersticken zu müssen. Wie es ein Teilnehmer in einem meiner Workshops ausgedrückt hat: Die Form des Gebens ändert sich. Wir müssen sie nicht mehr füttern, beschützen, umhegen. Wir müssen ihnen, vor allem, unser Vertrauen schenken (These 7) – und uns selbst: als standhaftes Gegenüber (These 8), als ganze Menschen (These 10). Als Menschen, die Verantwortung für sich selbst übernehmen, ihren eigenen Weg suchen und gehen, ihre eigenen Höhen und Tiefen erleben, Erfolge erringen und Abgründe durchwaten. Und die Jugendlichen den ihren gehen lassen.

www.pubertätverstehen.ch